

Vom „hinterwäldlerischen Ossi“ in der Diaspora
Diese Geschichte könnte nirgendwo besser beginnen als an dieser tristen Autobahnausfahrt nahe Neubrandenburg. Im Niemandsland von Mecklenburg hat mich ein rüstiger Rentner abgesetzt; wie stets bin ich per Anhalter unterwegs. Es ist lausig kalt, Regentropfen prasseln mir ins Gesicht, und dieser Platz direkt an der Landstraße ist für Tramper ungefähr so geeignet wie ein doppelter Espresso als Einschlafhilfe.
Eine halbe Stunde lang donnert Auto um Auto an meinem ausgestreckten Daumen vorbei; meine Laune ist längst so frostig wie das spätwinterliche Wetter. Da stoppt plötzlich ein silberner Mercedes. „Nach Neubrandenburg? Kann ich dich mitnehmen“, brummt der Fahrer. Ich steige ein und hoffe auf dialogfreie 15 Kilometer. Ankommen, ein Glas Tee, ein warmes Bett — mehr will ich nicht mehr von diesem nassgrauen Reisetag.
Entsprechend wortkarg beantworte ich die Fragen des Mannes am Mercedessteuer. „Du schreibst ein Buch über das kulinarische Deutschland?“ Offenbar regt sich sein Interesse. „Dann fahren wir jetzt zu deiner Pension, lassen deinen Rucksack dort, und du kommst mit zu mir.“ Das Nein liegt mir schon auf der Zunge. Doch erstens habe ich mir vorgenommen, dieses Wort auf meiner Reise so selten wie möglich zu gebrauchen. Und zweitens hat Mario, so heißt der Fahrer, einen Satz gesagt, der mein Interesse weckt: „Ich bin Wein– und Whiskyhändler.“ Mehr will er dazu nicht erzählen — „das siehst du dann schon“. Aber ein Whiskyhändler in Neubrandenburg? Das klingt wie ein Würstchenverkäufer beim Vegetariertreff.
Zehn Minuten später sitze ich in Marios kleinem Whisky-Laden und staune. Genauer gesagt staune ich so nachhaltig, dass das mächtige Stück Kirschtorte vor mir eine Dreiviertelstunde lang unangetastet bleibt. Ebenso zwei Whiskyproben, die Mario einschenkt. Die Flaschen angelt er aus einem Meer an Boxen, Flaschen, Büchsen, Karaffen und sonstigen Gefäßen, die fein säuberlich aufgereiht in den Regalen stehen. Doch es ist nicht nur die schiere Masse von „um die tausend Whiskysorten“ (Mario), die diesen Raum so einmalig machen. Es sind das gedimmte Licht, das Dutzend schwarzschwerer Ledersessel, der rustikale Tisch, die hölzernen Deckenbalken, das Ambiente dieses ehemaligen Kornspeichers sowie der süßliche Geruch von Tabak und Alkohol in der Luft, die eine unvergleichliche Atmosphäre schaffen in dieser Whisky-Lounge (Mario: „Lounge, weil mehr sind als nur ein Laden“). Und allen voran sind da Mario und seine Frau Ela, die jedem Gast einen Kaffee anbieten oder ein Stück Kuchen, ein Glas Bier, einen Schluck Whisky, Schmalzbrote, Weingummis — oder im Fall von verfrorenen und ausgehungerten Reisejournalisten all dies hintereinander. Was zur Folge hat, dass jeder Besucher sich an diesem speziellen Ort sofort heimisch fühlt.
Und dann beginnt Mario zu erzählen. Wie er schon damals in der DDR fasziniert war von diesem Getränk — obgleich nur drei unterschiedliche Whiskysorten erhältlich waren. Wie er sich die Nase plattgedrückt hat an der Schaufensterscheibe des Spezialitätengeschäfts Delicat, wo eine Flasche Johnny Walker Red Label für 72 Mark feilgeboten wurde — „72 Ostmark für eine Flasche Schnaps! Das war beinahe so viel, wie die Miete für meine Wohnung!“ Wie er sich nach der Wende von seinem ersten West-Geld eine solche Flasche Johnny Walker gekauft hat — „18,99 Mark, das weiß ich noch heute“. Und wie ihn danach die Leidenschaft für Whisky packte — und bis heute nicht losgelassen hat.
Im Jahr 2005 ist Marios private Sammlung auf 400 Sorten angewachsen; für Freunde veranstaltet er regelmäßig Verkostungen. Da entscheiden Ela und er die gemeinsame Leidenschaft zum Beruf zu machen: Sie kaufen den alten Kornspeicher in der Neubrandenburger Innenstadt und richten dort nach ihren Vorstellungen „The Quaich — Die Whisky-Lounge“ ein. „Ich arbeite weiter als Berufsschullehrer, und jeden Cent stecken wir in den Laden“, sagt Mario und grinst. „Man muss schon verrückt sein, um so etwas zu machen.“
Doch die Verrücktheit zahlt sich aus. Inzwischen gehört „The Quaich“ zu einem der bekanntesten Whisky-Läden in Mitteldeutschland; der Umsatz ist stetig gestiegen und die Kunden kommen aus ganz Europa. Wenn Mario ein Mal im Monat zur Verkostung lädt, sind die Tickets im Nu vergriffen. Außerdem veranstaltet das Ehepaar im Sommer Live-Konzerte im Hof und immer im August eine Whisky-Messe, zu der an einem Wochenende Hundertschaften strömen. „Whisky ist für mich eine Philosophie“, sagt Mario. „Und die will ich auch an andere weitergeben.“ So hat sich über die Jahre ein Zirkel von Gleichgesinnten gefunden — die Whisky-Loge -, die vierteljährlich zusammenkommen, um über die mannigfaltigen Variationen des Lebenswassers zu fachsimpeln.
Bleibt eigentlich nur eine Frage: Warum hat es diesen Liebhaber des wahrscheinlich weltmännischsten Getränks nie in die große, weite Welt gezogen? „Weil ich ein rückständiger, finsterer, hinterwäldlerischer Ossi bin“, sagt Mario und guckt dabei so schelmisch drein, dass ich nicht einmal vermuten mag, wie groß das Körnchen Wahrheit in dieser Lüge ist. „Nein, im Ernst: Ich lebe seit 34 Jahren in der Diaspora. Ich mag den Menschenschlag im Norden. Irgendwie gefällt es mir hier.“ Und in dem Moment schießt mir ein Gedanke in den Kopf, den ich vor zwei Stunden an der Autobahnausfahrt noch als ebenso abwegig bezeichnet hätte wie ein Whisky-Fachgeschäft in Neubrandenburg: „Mir auch!“
(Das unterste Foto stammt von Mario Sammler, und ich veröffentliche es hier mit seiner freundlichen Genehmigung. Mehr über seine Whisky-Lounge steht auf der Webseite von The Quaich)
interessant, dass Du mit Deiner Vorfeldrecherche (was ess ich da bloss) mit Ausprägung Whisky-Lounge Recht behalten solltest. Ein besonders schöner Artikel, das nächste mal trotzdem aufpassen mit „Das siehst Du dann schon“, Bürschchen!
Dearest floexi,
eine weise Ratwarnung. Ich danke. Ich nehme sie zur Kenntnis. Und zu Herzen. Herzlichst!
[…] Begegnung mit dem „hinterwäldlerischen Ossi“ in der Diaspora habe ich bereits in meinem Blog berichtet. Nun habe ich Mario und seiner Whisky-Lounge auch meine jüngste Kolumne im Münchner Merkur […]