Ihr braucht noch ein Weihnachtsgeschenk für einen Essensliebhaber, Hobby-Koch oder Reiseenthusiasten? Bis Heilig Abend verschicke ich signierte Exemplare von „Speisende soll man nicht aufhalten“ — und das versandkostenfrei (mehr dazu hier). Um diese Weihnachtsaktion zu bewerben, schnüre ich einen Adventskalender: Von Montag bis Freitag gibt es täglich eine Anekdote rund um mein Buch — beispielsweise, wie es zu dem Titel kam, wie viele Exemplare ich bereits verkauft und welche Unsummen ich damit verdient habe. Heute: Todeskuss der Löschtaste.

Eine Anhaltergeschichte in Rheinland-Pfalz fiel der Löschtaste zum Opfer.
Spätestens seit dem Siegeszug der DVD weiß auch Otto-Normal-Filmgucker: Nicht alle Szenen, die für einen Kinostreifen aufgezeichnet werden, landen hernach auch im fertigen Werk. Stattdessen fallen ganze Sequenzen dem Schnitt zum Opfer — und tauchen später als sogenannte „deleted scenes“ im Bonus-Material der DVD wieder auf.
Ob die Bezeichnung „gelöschte Szenen“ nicht einer gewissen Sinnhaftigkeit entbehrt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Vielmehr geht es um die „deleted scenes“ in meinem Buch, die zwischenzeitlich zwar im Manuskript auftauchten, bis zur finalen Version jedoch der Löschtaste zum Opfer fielen.
Trampen oder Couchsurfing
Eine Stelle, mit der ich besonders lange gehadert habe, war der Einstieg in das Kapitel über Rheinland-Pfalz. Bevor es in die Gemeinde Platten und zum dortigen Teufelsbraten ging, standen zwei Möglichkeiten zur Auswahl: entweder ein Bericht über die (durchaus mühsame) Anreise oder eine Schilderung des gemeinsamen Abendessens mit meinen (etwas gewöhnungsbedürftigen) Couchsurfing-Gastgebern. Weil ich mich partout nicht entscheiden konnte, formulierte ich beide Passagen aus, ehe ich mich für die Couchsurfing-Variante entschied. Warum? Hauptsächlich, weil ich bereits an anderen Stellen im Buch von missglückten Anhalterreisen berichte und befürchtete, dass der Leser dieses Themas überdrüssig werden könne.
Da ich bezweifle, dass es jemals eine Verfilmung, geschweige denn ein DVD von „Speisende soll man nicht aufhalten“ geben wird, will ich zumindest in diesem Adventskalender jene Episode erzählen, die gewissermaßen im Recall die Rote Karte sah (um einmal die seltene Kombination von Castingshow und Fußball zumindest sprachlich zusammenzubringen).
Hier also, was ich schrieb — und dann löschte:
Rheinland-Pfalz: Saumagen macht den Kohl nicht fett
Es gibt eigentlich nur eine Sache, die für Anhalter schlimmer ist, als stundenlang an einem Fleck auszuharren, in der Kälte zu bibbern, den klammen Daumen zu schwenken und dennoch Auto um Auto vorbeibrausen zu sehen. Nämlich: stundenlang an einem Fleck ausharren, in der Kälte bibbern, den klammen Daumen schwenken und dennoch Auto um Auto vorbeibrausen sehen – bei Regen.
Für solche Situationen hat der kluge Anhalter eine wasserdichte Jacke im Gepäck, sodass er zumindest einigermaßen trocken bleibt. In meinem Rucksack jedoch suche ich an diesem Tag vergeblich nach einer solchen – dafür baumelt daran ein wasserdichtes Zelt, das noch immer auf seinen ersten Einsatz wartet. Und so stehe ich mit durchnässter Jacke, durchnässten Kleidern und durchnässten Schuhen hier im Nirgendwo und fluche leise vor mich hin.
Am Vormittag hat mich mein Daumen recht zügig von Aachen über Köln bis in den Nordwesten der Eifel gebracht. Doch quasi mit dem einsetzenden Regen scheint auch die Mitnahmelust der Autofahrer hinweggespült, und so stehe ich nun seit einer gefühlten Ewigkeit an dieser Landstraße am Ortsrand von Blankenheim. Mein Ziel, die kleine Gemeinde Platten an der Mosel, dürfte noch etwa achtzig Kilometer entfernt sein, wie mir der Blick auf die Karte gezeigt hat. Genauer gesagt war der Blick äußerst flüchtig, worüber ich mich später noch im Stile des HB-Männchens aufregen werde.
Doch im Moment beschäftigt mich nur eine Frage: Soll ich meine Schuhe ausziehen, die Socken auswringen und ein frisches Paar aus dem Rucksack überziehen? Oder wäre das vergebliche Mühe, weil auch der frische Stoff nach zwei Minuten wieder durchnässt ist? Gerade als ich zum Schuh greifen will, hält plötzlich ein nagelneuer Kleinbus mit holländischem Kennzeichen neben mir. Ich stutze: Ist dieses Gefährt nicht soeben an mir vorbeigedonnert? „Ja, das stimmt“, bestätigt Ruud, nachdem ich mich, meinen Rucksack und gefühlte zwei Liter Regenwasser auf die Rückbank gehievt habe. „Wir haben diesen Bus erst seit kurzem und total vergessen, dass wir jetzt genug Platz haben, um Anhalter mitzunehmen.“ Ruud grinst, seine Frau Rita lacht. Die beiden machen auf Anhieb einen freundlichen Eindruck, was sich im Laufe unserer Fahrt bestätigen wird.
Wie so viele Niederländer spricht auch dieses Ehepaar hervorragend Deutsch, sodass wir uns alsbald angeregt unterhalten. Ja sogar ein Stück selbstgebackenen Kuchen samt Mandarinensaft reicht mir Rita, während wir über Landstraßen durch die ebenso grüne wie verregnete Eifel kurven. Die beiden wollen nach Cochem an der Mosel, etwa fünfzig Kilometer flussabwärts von meinem heutigen Etappenziel. „Dieses Platten, wo du hin musst“, fragt Ruud nach etwa einer Viertelstunde, „wo genau liegt das denn?“
Eine ehrliche Antwort würde lauten: Genau weiß ich das nicht. Doch ich plappere einfach drauf los: „Das ist gleich bei Traben-Trarbach um die Ecke“ – weil ich das bei meinem flüchtigen Kartenblick so erkannt haben will. Ruud wechselt einige Sätze mit seiner Frau in Holländisch, dann dreht sich Rita zu mir um: „Weißt du was? Wir fahren dich bis nach Traben-Trarbach.“ Ich bin verblüfft: „Aber das ist doch ein Riesenumweg für euch!“ Um genau zu sein etwa achtzig Kilometer, wie ich später feststellen werde. „Das ist kein Problem“, winkt Ruud ab. „Wir müssen nicht vor heute Abend in Cochem sein. Und bei dem Wetter könnten wir ohnehin nichts unternehmen.“
Eine Stunde später bringt Ruud den Kleinbus im Zentrum von Traben-Trarbach zum Stehen. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen; hinter den Wolken spitzt sogar ab und zu die Sonne hervor. „Und du bist sicher, dass du von hier nach Platten laufen kannst?“, fragt Rita besorgt. Einen kurzen Moment überlege ich, die Karte hervorzukramen – doch dann schiebe ich diesen Gedanken beiseite: „Ja, das ist kein Problem. Ganz lieben Dank für eure Hilfe.“
Ich winke den beiden zum Abschied und stapfe los. An einer Bushaltestelle entdecke ich einen Umgebungsplan und steuere darauf zu – nur zur Sicherheit, murmele ich leise. Doch schon im nächsten Moment ist es vorbei mit der Ruhe. Stattdessen schleudere ich dem Plan mit hochrotem Kopf eine Schimpftirade entgegen, deren Wortlaut ich an dieser Stelle nicht wiederholen will. Denn: Platten ist tatsächlich einen Fußmarsch von Traben-Trarbach entfernt – allerdings nur, wenn man unter Fußmarsch auch eine vierstündige Wanderung versteht.
Warum nur habe ich im Kleinbus nicht auf die Karte geschaut?, fluche ich immer noch in einer Lautstärke, dass sich ein Spaziergänger mit Hund erstaunt zu mir umdreht. Weil ich mir sicher war? Mitnichten! Vielmehr wollte ich mir wohl keine Blöße geben, meine Unwissenheit kaschieren und den erfahrenen Tramper mimen. Seit längerer Zeit muss ich wieder einmal an Schwerin, Katharina und ihre Tugendkarte denken: Wäre auch hier etwas mehr Integrität angebracht gewesen?
Drei Stunden und drei Fahrer später erreiche ich schließlich mein heutiges Etappenziel. Meine Schuhe sind immer noch feucht und meine Laune immer noch verregnet, sodass ich mich nach dem gemeinsamen Abendessen mit meinem Couchsurfing-Gastgeber früh ins Bett verabschiede. Dort gehe ich diesen Anhaltertag noch einmal in Gedanken durch und komme zu dem Schluss: Womöglich wäre heute etwas mehr Integrität wirklich hilfreich gewesen, aber mindestens ebenso dringend hätte ich etwas nutzen sollen, das ich auch ohne Karte stets dabei habe — nämlich meinen Kopf.
Bisher im Adventskalender: