
Adieu München. Hier habe ich mich im Dauerdaumenschwenken geübt.
Die Tragweite meines Fehlgriffs wird mir erst bewusst, als ich die Hälfte schon heruntergewürgt habe von diesem fleischfarbenen Etwas, das mir die Bäckersfrau als Breze verkauft hat. Welch Fauxpas! Diese Möchtergern-Brezen, die schmeckt wie ein in Salzwasser aufgeweichter Styroporklumpen, und ein Becher mit bitterer, brauner Plörre — sie sind tatsächlich das erste Essen auf meiner Reise! Meiner kulinarischen Reise wohlgemerkt, auf der ich den Leckereien meines Heimatlandes nachspüren will. Und jetzt das: zum Auftakt eine Labberbreze in der Backstube Hexenbäck im Vorraum eines Norma-Supermarktes im grautristen Erlangen-Tennenlohe!
Hätte ich Hunger und Kaffeelust doch nur etwas zügeln können, denke ich eine Stunde später über sechs vom Buchenholzfeuer gegrillten Rostbratwürsten neben herrlich aromatischem Sauerkraut im traditionellen Bratwursthäusle am Nürnberger Hauptmarkt. Jedoch: Ohne meinen Abstecher im Hexenbäck säße ich jetzt nicht hier — und müsste meine Bratwürste außerdem selbst bezahlen.
Doch der Reihe nach.
Donnerstagmorgen, halb zehn, Autobahnauffahrt zur A9 nahe der Studentenstadt im Münchner Norden. In den letzten eineinhalb Stunden sind handgezählte 74 VW, 23 Audi, 34 Mercedes und — wir sind schließlich in Bayern — 64 BMW sowie rund 175 weitere Laster und Autos an meinem ausgestreckten Daumen vorbeigebrettert, ohne den Anhalter in seiner leuchtendgrünen Jacke auch nur eines Blickes zu würdigen.
Als ich meinen Frust gerade mit etwas Beef Jerky besänftigen will, stoppt plötzlich ein winziger roter Ford — auf der Rückbank bis unters Dach mit Koffern, Taschen und Tüten vollgestopft. Aus der Beifahrertür kommt ein pechschwarzer Haarschopf zum Vorschein, hinterher das Gesicht eines jungen Mannes. „Herr Langen?“, radebrecht er lachend. „Nein, Stäbler, du Witzbold“, will ich antworten, verkneife es mir — und dann fällt der Groschen. „Ah, Erlangen! Gerne, ich will nach Nürnberg, und das ist ja gleich um die Ecke.“
Zwanzig Minuten und eine kraftraubende Umräumaktion später sitze ich eingezwängt auf der Rückbank, vorne Asif, um die 40, geschorene Haare, mächtiger Rauschebart, daneben Haris, deutlich jünger und schüchterner, schwarze Haare, Mittelscheitel; beide studierte Informatiker, beide aus Pakistan, beide Moslems.
Ausführlich beschreibe ich Asif und Haris meine Reisepläne. „Aha, eine Art Auszeit“, sagt Asif, „das habe ich auch Haris empfohlen. Dass er wie ich vier Monate nach Pakistan geht, dort in Moscheen lebt und sich mit seiner Religion beschäftigt.“ An dieser Stelle würde ich gerne etwas anderes schreiben, aber: Prompt beginnt es in meinen Kopf zu rattern — Pakistan, Islam, Koranschulen, Ausbildungslager, Al-Kaida, Islamisten, Terror…
„Nicht was du denkst“, sagt Asif und blickt mich durch den Rückspiegel aus seinen Teddybäraugen lachend an. „Wir sind Pazifisten. Jeder soll so leben, wie er es für richtig hält.“ Und dann gibt er mir noch sein Lebensmotto mit auf den Weg: „Ein kluger Mann hat mir einmal gesagt: Tritt den Menschen mit Liebe in deinem Herzen entgegen, und du bekommst Liebe zurück. Trägst du aber Hass im Herzen, dann erntest du auch Hass.“
Die Fahrt vergeht wie im Flug; wir sprechen über Gott und die Welt — und das im Wortsinn. In Erlangen verabschiede ich mich von den beiden und stehe — nach meinem vergessenswürdigen Stopp im Hexenbäck — alsbald erneut am Straßenrand. Diesmal hält gleich der zweite Wagen, ein etwa 75-jähriger Rentner. „Nürnberg? Rein mit dir!“
War Asif ein wortgewandter und redefreudiger Gesprächspartner, ist Herr K. genau das Gegenteil — ein Schweigepartner. Mein Versuch, ihn über Nürnberger Rostbratwürste in einen Dialog zu locken, scheitert kläglich. Stattdessen widmet sich Herr K. seinen Nebenfahrern auf der Straße: „Pass halt auf, Du Depp!“, „Ja, was willst Du denn!“, „Komm halt rüber!“
Umso erstaunter bin ich, als Herr K. in der Innenstadt plötzlich knurrt: „Ich parke jetzt auf dem Parkplatz, und dann gehen wir Bratwürste essen.“ Es ist keine Frage, sondern ein Befehl. Doch weil ich mir für meine Reise vorgenommen habe, das Wort Nein so selten wie möglich zu gebrauchen, sitzen wir eine halbe Stunde später im Bratwursthäusle und kauen auf wahrlich hervorragenden Exemplaren dieser Nürnberger Spezialität. Ich starte noch ein paar halbherzige Gesprächsanschieber, doch außer einigen Sätzen und Andeutungen zu seinem Leben ist Herrn K. nicht viel zu entlocken.
Als es ans Zahlen geht, stellt er klar: „Ich bezahle.“ Wie es sich für einen echten Grantler gehört, liefert sich Herr K. noch einen kurzen Disput mit dem Kellner („Sie nehmen keine Kreditkarten? Frechheit! Sagen Sie das Ihrem Chef!“) und begleicht dann die Rechnung in bar — ohne einen Cent Trinkgeld.
Draußen vor der Tür, Herr K. zündet sich eine Dunhill an, nippt an seinem Bier, wendet sich mir zu. „So. Sie sind jetzt entlassen.“ Wieder ein Befehl. Meine Dankesworte und guten Wünsche nimmt er so regungslos entgegen wie zuvor den Wetterbericht im Radio. Ich schultere meinen Rucksack und stapfe in Richtung Touristen-Information. Ein letztes Mal drehe ich mich um, zum Bratwursthäusle, zu Herrn K., hebe die Hand zum Abschied — und da erscheint plötzlich der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht.
Oder zumindest bilde ich mir das ein.

Das Bratwursthäusle im Herzen Nürnbergs