„Weg!“, „Weg!“, „Weg!“. Maiks Zeigefinger saust durch die Luft, während wir in seinem Auto durch die Innenstadt von Altenburg fahren. „Auch weg!“, „Weg!“, „Und da stand auch mal ein Haus!“. Jetzt ist dort — nichts. Gähnende Leere. Im besten Fall ein Parkplatz. Im schlimmsten Fall wildwucherndes Gestrüpp.
Altenburg, im östlichsten Zipfel von Thüringen, pittoreske Altstadt, eine prachtvolle Schlossanlage im Zentrum. An die 55.000 Einwohner lebten hier vor der Wende 1989. Heute sind es weniger als 35.000 — und das, obwohl in der Zwischenzeit etliche Nachbarorte eingemeindet wurden. Grund ist zum einen der Geburtenrückgang und zum anderen die Abwanderung: „Von meinem Abiturjahrgang leben noch drei in Altenburg — inklusive mir“, sagt Maik, gebürtig aus der Region und Nachbar jener „einzigen WG der Stadt“, die mich über Couchsurfing aufgenommen hat. „Vor allem junge Leute ziehen weg, sobald sie können. Weil sie hier keine Zukunft haben.“
Die Folge: Zahlreiche stattliche Häuser in bester Innenstadtlage stehen leer, sind verfallen — oder bereits abgerissen. In München würden sich Makler auf diese Immobilien stürzen wie Geier auf den Kadaver. Hier hingegen übersteigen die Mietpreise kaum einmal fünf Euro pro Quadratmeter. Dennoch wird Altenburg immer leerer, immer älter — und ist damit nicht alleine.
Zittau, eine traditionsreiche Stadt im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien? Vor der Wende fast 40.000 Bewohner, heute nur noch 22.000. Leere Häuserzeilen, Industrieruinen, Plattenbauten in den Vororten. Cottbus? Vor 20 Jahren eine 130.000-Einwohner-Stadt; heute: etwas weniger als 100.000 — Eingemeindungen zum Trotz. Das Schema ist überall gleich: Mit der Wiedervereinigung kam die Marktwirtschaft, die Industrie brach weg, damit die Arbeitsplätze — und vor allem die Jungen und gut Ausgebildeten nahmen reißaus.
So auch in Görlitz, Deutschlands östlichster Stadt: vor der Wende 75.000 Bewohner, heute noch 55.000 — zahlreiche Eingemeindungen auch hier. Dabei ist die Innenstadt ein Schmuckstück und gilt mit 4000 zumeist restaurierten Baudenkmälern als das größte zusammenhängende Flächendenkmal Deutschlands. Selbst jetzt, im März, hasten Touristengruppen den Stadtführern hinterher und bestaunen die architektonischen Juwele der verschiedenen Epochen. Nette Anekdote am Rande: Die gigantischen Sanierungsarbeiten wurden unter anderem von einem anonymen Gönner unterstützt, der seit 1995 jedes Jahr eine Million Mark — später 511.500 Euro — in die Stadtkasse spendet. Einzige Bedingungen: Sein Name darf niemals an die Öffentlichkeit gelangen.
Doch selbst in der malerischen Innenstadt trifft der Besucher immer wieder auf leer stehende oder verfallene Häuser. Und dann gibt es da noch die andere Seite von Görlitz: Nur zehn Gehmimuten von der Altstadt beginnt der Ortsteil Königshufen — und mit ihm riesige Plattenbauanlagen. In diesem tristen Einheitsgrau wohnt der Großteil der Görlitzer, von denen jeder Vierte (!) Hartz IV bezieht. Die Arbeitslosenquote: um die 20 Prozent. „Dort herrschen oft erschreckende Zustände“, erzählt mein Couchsurfing-Gastgeber, der als Polizist häufig nach Königshufen ausrücken muss. „Die Armut. Der Alkohol. Und trotzdem wollen die meisten Menschen nicht raus aus den Plattenbauten.“
Doch will ich hier keinesfalls das einseitige Bild vom tristen, chancen– und hoffnunglosen Osten zeichnen. Im Gegenteil: Ich zumindest habe auf meiner Reise zahlreiche Menschen getroffen, die sich bewusst für die Region entschieden haben, die sich einsetzen, die etwas bewegen wollen. „Ich würde nie in den Süden zurück wollen“, sagt etwa Tobias, ursprünglich aus Ulm, heute an der Görlitzer Uni tätig. „Da ist alles schon so fertig, so festgefahren. Hier hingegen kann ich noch was bewegen.“
Und Tobias ist nicht allein: Da ist der Mutzbraten-König André Schakaleski, der sich mit nimmermüdem Einsatz ein kleines Unternehmen rund um seine Imbisswagen aufgebaut hat. Da ist Peter Besser, der im Wirtshaus zum Alten Sack in Zittau die oberlausitzer Küche wiederbelebt, Radtouren anbietet, Führungen organisiert. Da ist der Schauspieler Heiko, der mit aller Kraft für das traditionsreiche Altenburger Theater kämpft. Da ist René, der neben seinem 40-Stunden-Job bei der Uni Cottbus eine eigene Firma betreibt und sich die Nächte mit Programmieren um die Ohren schlägt. Und da sind meine Couchsurfing-Gastgeber aus Görlitz, die ihre Kinder in den Waldkindergarten schicken, sich für den Fahrradclub ADFC engagieren, vorwiegend Produkte aus der Region kaufen — und genauso gut nach Prenzlauer Berg oder Haidhausen passen würden.
Und weil ich gerade beim Schubladendenken bin: Nazis? Hab ich bisher noch nirgends zu Gesicht bekommen — obwohl doch manch Medienbericht nahelegt, dass die NPD-Parteibüros im Osten stets direkt neben dem Rathaus stehen, aus allen Autos Deutschrock tönt und die Innenstädte fest in der Hand der Rechten sind. Wobei: Ich habe nun schon von mehreren Personen versichert bekommen, dass es den Springerstiefel tragenden Glatzen-Nazi nicht mehr gibt. „Die sehen inzwischen aus wie ganz normale Studenten“, meint etwa Gabi, meine Couchsurfing-Gastgeberin in Cottbus.
Meine einzige Erfahrung in dieser Richtung war eine zehnminütige Anhalterfahrt mit einem übel riechenden, bulldoggengesichtigen Mittdreißiger, der mich südlich von Cottbus aufgabelte. Nachdem er meine Reisepläne mit einem „Interessiert mich gar nicht“ abgebügelt hatte, versuchte ich den Small Talk in Richtung Fußball zu wenden. Seine Reaktion: „Weißt du, ich bin national eingestellt. In der Bundesliga spielen mir zu viele Ausländer. Das ist keine Bundesliga mehr.“ Selten habe ich ein Fahrtende dringlicher herbeigesehnt — aber, wie gesagt: ein Einzelfall.
Eines hingegen war überall augenscheinlich — egal ob Altenburg, Zittau oder Görlitz: Es gibt kaum Ausländer hier; sogar in den Dönerläden stehen Deutsche am Grillspieß. So zählte die 55.000-Einwohner-Stadt Görlitz im Jahr 2003 gerade einmal 1200 Ausländer, und fast die Hälfte davon stammt aus dem nahen Polen. Türken? Araber? Asiaten? Südeuropäer? Fehlanzeige!
Und noch ein letztes entgeht dem Beobachter nicht: das hohe Alter der Bevölkerung. So brausten reihenweise Rentnerwagen — Mann fährt, Frau daneben, beide weißhaarig — an meinem ausgestreckten Daumen vorbei, als ich Görlitz per Anhalter verlassen wollte. Nicht umsonst haben Medien die Stadt Pensionopolis getauft — auch weil allein bis 2007 mehr als 1000 Senioren aus dem Westen dorthin gezogen sind, um ihren Lebensabend bei günstigen Lebenshaltungskosten zu genießen.
Der Osten: Alt? Leer? Verfallen? Oder doch: Im Aufbruch? Anpackend? Hoffnungsfroh? Da traue ich mir (noch) kein Urteil zu. Nur eines: Spannend ist’s hier auf jeden Fall.
Hier noch ein paar Fotos aus Altenburg, Görlitz und Cottbus: